Außerordentliche Sachen verdienen mit einem großen Schuss Fantasie auch eine außerordentliche Auslegung. Wenn die durch Fantasie entstandene Sage verbreitet wird, verdient sie zum ewigen Gedenken auch ein an einem bestimmten Ort erbautes Denkmal. Und so etwas geschah in Franzensbad des Jahres 1906.

DER SALZKÖNIG

 Tief unter der Erde, wo die Gewässer unter starkem Druck fließen, wohnt in herrlichen, mit bunten Salzkristallen geschmückten Höhlen der mächtige Salzkönig mit seinem Hof. Die Aufgabe des Salzkönigs und seines Hofes besteht in der Bewachung des sauberen Wassers und der Bereicherung dieser Wässer mit verschiedenen Salzen und Mineralien. So tut es der freigebige Salzkönig schon seit vielen, vielen Jahren auch unter Franzensbad. Während seiner Regierungszeit tragen die Grundwasserquellen einen ganzen Haufen Salz auf die Erdoberfläche. Was heißt einen Haufen, es wurden schon ganze Berge von Salz auf die Erdoberfläche gebracht. Die Menschen, die seit jeher dieses Land bewohnen, sind sich des Reichtums, das ihnen von der örtlichen Natur angeboten wird, sehr gut bewusst. Die zuerst schüchterne Ausnutzung der Mineralquellen führte bis zur Gründung eines der Gesundheit dienenden Kurortes, dessen Berühmtheit sich in der ganzen Welt verbreitete. Es tauchen selbstverständlich Fragen auf, wo der ganze, sich unter der Erde befindliche Reichtum herkommt, ob der Salzkönig auch weiterhin den Menschen gegenüber freigebig bleibt, ob vielleicht der Reichtum an Mineralwasser, das aus den Tiefen der Erde hervorstießt, nicht ausgeht. Seit jeher sagt die Tradition, dass eine Zeit kommen wird, wo der Salzkönig die Menschen auf der Erdoberfläche besuchen wird, um sich davon zu überzeugen, ob sie auch gut mit seinen Geschenken wirtschaften. Deshalb bauten die Franzensbader zum fünfhundertsten Jahrestag der ersten schriftlichen Eintragung über die örtlichen Heilquellen eine Säuerlingburg auf der Anhöhe über der Stadt – mit einem Aussichtsturm und einem luftigen Gemach. Man erwartet, dass der König, wenn er den Menschen einen Besuch abstattet, auf den Turm hinaufsteigt und die Landschaft rundum besichtigt. Er wird neugierig sein, ob der Reichtum an Mineralwasser aus seinem Königreich vielen Menschen Genesung bringt und bei allen Ortsansässigen für Lebensunterhalt sorgt. Oder – ob sich vielleicht nur einige die Heilkraft der Mineralwässer angeeignet haben und den anderen den Zutritt verweigern. Oder ob man mit den wertvollen Geschenken verschwenderisch umgeht oder die Reinheit des Wassers durch verschiedene Tätigkeiten verdirbt. Danach wird er nach dem Abstieg vom Turm - aus dem Gemach, in dem ein Thron aus Salzkristallen steht - den Menschen sein gerechtes Urteil verkünden. Wie das Urteil sein wird, das liegt nur an uns. Betreuen wir also die Reichtümer dieses Landes so, als solle der Salzkönig noch heute erscheinen. Auch wenn er erst morgen kommen sollte oder vielleicht erst in den nächsten langen fünÍ undert Jahren....